Geschichten über Lu Xun und Junge Leute 鲁迅和青年的故事 (1976)

Geschichten über Lu Xun und Junge Leute: Lu Xun und die chinesische Holzschnitt Bewegung 鲁迅和青年的故事 #

Einleitung zu den Comic #

Lena Henningsen

Gegen Ende seines Lebens bemühte sich der chinesische Schriftsteller Lu Xun 鲁迅 (1881-1936) um die Holzschnitt-Bewegung in China. Er sah das große ästhetische und politische Potenzial in dieser Kunstform: Mit ihrer Ausdrucksstärke konnte sie den Betrachter direkt ansprechen, aufgrund ihrer Reproduzierbarkeit war sie geeignet, einer breiteren Zuschauerschaft ästhetisches Erleben zu ermöglichen und diese gar zu mobilisieren. Lu Xun sammelte Holzschnitte von europäischen Künstlern wie Frans Masereel oder Käthe Kollwitz, deren Werk „Die Mutter" in der Ausstellung in „Die Geschichte eines Holzschnitts" (Fan 1976) im Hintergrund des zweiten Panels zu sehen ist, wenn auch überproportional groß. Lu Xun ließ diese Werke reproduzieren, ausstellen und in Zeitschriften veröffentlichen, und er organisierte einen Workshop für junge Künstler: ein japanischer Künstler – der Bruder von Lu Xuns Freund, dem Buchhändler Uchiyama Kanzō – unterrichtete junge chinesische Künstler, Lu Xun übersetzte.

Von Lu Xuns Bemühen um einen modernen, politischen Holzschnitt handeln zwei der drei hier vorgestellten chinesischen Comics, der erste spielt vor dem Hintergrund von Lu Xuns Übersetzertätigkeit sowie im Buchladen des besagten Freunds. Damit zeigen die Comics tatsächliche Episoden aus dem Leben des berühmten Schriftstellers. Der Realitätsbezug wird auch dadurch verstärkt, dass konkrete Szenerien – der Buchladen oder der Ausstellungsraum – detailgetreu und realitätsnah dargestellt werden, wie ein Vergleich mit Fotographien aus der Zeit bezeugt. Auch finden sich Zitate von realen Bildern in den Comics, neben dem erwähnten Kollwitz-Bild lässt sich auch das Porträt von Lu Xun in „Geschichte eines Holzschnitts" auf das Original von Cao Bai zurückverfolgen. Die Comics lassen sich einbetten in Diskurse um Lu Xuns Bemühen um diese Kunstform, um eine Verbreitung von Comics als Mittel zur Modernisierung des Landes, sowie um das intellektuelle und literarische Vermächtnis des Schriftstellers (Tang 2007, Davies 2013, Fogel 2019, Graf 2023, Baker, Ginsberg 2020, Goldman 1982, Holm 1985, Lee 1985, Liu 2019, Gu 2019).

Die lianhuanhua schildern also drei Episoden gegen Ende des Lebens von Lu Xun. Sie tun dies aus der Perspektive des Sommers 1976, in dem die hier übersetzten Comics in einem kleinen Sammelband mit dem Titel Geschichten über Lu Xun und Junge Leute (鲁迅和青年的故事, Shi 1976) veröffentlicht wurden, also gegen Ende der Kulturrevolution. Damit steht der Band auch an einer Umbruchsstelle in der Entwicklung chinesischer Comics: Im Bewusstsein um die Effizienz von Comics in der Vermittlung von Wissen und Ideologie, förderte die Kommunistische Partei (KP) lianhuanhua massiv. Lianhuanhua zählen zu den wissenschaftlich noch wenig untersuchten, aber gesellschaftlich besonders weit verbreiteten Medien im China der Mao-Zeit sowie der frühen Post-Mao Ära. Während in der Kulturrevolution weiterhin lianhuanhua produziert wurden, erlitten aber gleichzeitig zahlreiche Comic-Künstler politische Verfolgung und konnten nicht zeichnen oder publizieren. In ihrer künstlerischen Vielfalt, aber auch in ihrer Themenwahl können die hier vorliegenden Geschichten damit auf vielerlei Weise gelesen werden: als Huldigung des vielleicht wichtigsten chinesischen. Schriftstellers des 20. Jahrhunderts; als eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen den Generationen; als eine Auseinandersetzung mit den Aufgaben und Rollen von Schriftstellern und Künstlern; als eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Politik und Kunst; und als eine Auseinandersetzung mit dem Medium Comic, genauer: lianhuanhua, und der Rolle des Holzschnitts.

Eine Reihe von Topoi, Details und sprachlichen Wendungen im Text verorten die Comics dabei klar in den späten 1970ern:

In der Summe stellen alle Geschichten aus Geschichten über Lu Xun und Junge Leute – auch die hier nicht vorliegenden – Lu Xun als einen fürsorglichen Mentor für junge Leute dar, seien diese Künstler, Studierende, oder – wie in „Die Geschichte eines Buchkaufs" (Hu 1976) – einfache Arbeiter. Dieser Fokus steht im Einklang mit anderen Beschreibungen von Lu Xun, verdient aber im Jahr 1976 besondere Aufmerksamkeit: Die Geschichten wurden im August 1976 veröffentlicht, unmittelbar vor dem Ende der Kulturrevolution, in der Mao Zedong die Jugend des Landes angeleitet hatte, sich gegen Autoritäten und die ältere Generation (Eltern, Lehrer…) zu wenden. Später hatte Mao dieselben Jugendlichen dann im Rahmen der Landverschickungskampagne aufs Land geschickt, wo sie zum Teil selber vielfach Leid erlebten. Die Geschichten lassen eine Neudefinition im Umgang von Jung und Alt erkennen, sie stellen Lu Xun als Mentor der Jugend dar. Der Umgang miteinander ist geprägt von wechselseitigem Wohlwollen, Respekt und Sorge.

„Die Geschichte eines Holzschnitts" behandelt nicht nur das repressive politische Klima im China der 1930er Jahre und Lu Xuns Rolle für die Entwicklung dieser Kunstform in China. Sie kann auch gelesen werden als eine Metapher für die Unterdrückung von Künstlern durch die KP während der Kulturrevolution. Dem Comic liegen die reale Geschichte von Cao Bai zugrunde, das von ihm gestaltete Porträt von Lu Xun, sowie Lu Xuns Aufsatz „In Tiefer Nacht Geschrieben" (1936, für eine Übersetzung, siehe: Lu Xun 2017: 288-292). Der Leser mag sich aber auch fragen, ob die Autoren des Comics mit der Geschichte nicht auch über die harsche, gewalttätige und ungerechte Verfolgung nachdachten, der viele Künstler während der Kulturrevolution ausgesetzt gewesen waren.

Gleichzeitig spiegeln die Geschichten durchaus einen Lu Xun wieder, wie er in den vorausgegangenen Jahrzehnten von der Propaganda der KP dargestellt wurde, als einen Kämpfer für die Sache des Kommunismus, ein Kämpfer, der den Stift als Waffe in den Kampf führte, und der ohne zu schwanken an der Seite der KP stand – ungeachtet Lu Xuns deutlich ambivalenterer Haltung gegenüber der Doktrin der KP im echten Leben. Neben der kulturrevolutionär geprägten Sprache (etwa wenn die Gegner auf der Seite der Guomindang als „Reaktionäre" bezeichnet werden), verweisen auch die intertextuellen Bezüge auf die offizielle Doktrin: In „Die Geschichte eines Buchkaufs" etwa verschenkt Lu Xun zwei Bücher, das von ihm übersetzte Werk Die Neunzehn von Alexander Fadeyev, sowie Der Eiserne Strom von Serafimovich. Beide Titel sind Übersetzungen aus dem Russischen und zählen zum Kanon des sozialistischen Realismus, der auch in China weit propagiert wurde. Die Neunzehn finden sogar Erwähnung in Mao Zedongs Yan’aner (Reden aus dem Jahr 1942 (Denton 2016, Mao, McDougall 1980), in der er die bis heute gültige Doktrin für Literatur und Kunst festschrieb: Literatur und Kunst existieren nicht um ihrer selbst willen, sondern haben der Politik zu dienen, sprich: der Politik der KP. Als positives Beispiel verweist Mao auf Fadeyev – sowie wiederholt auf Lu Xun. Die herausragende Position von Lu Xun wird auch dadurch betont, dass Mao seine Rede mit einem Zweizeiler von Lu Xun beschließt, mit dem er die Unterordnung des Künstlers unter das Volk illustriert:

Mit grimmigem Blick biete ich tausend auf mich gerichteten Fingern die Stirn,

mit gesenktem Kopf diene ich den Menschen.

Diese politische Interpretation des Gedichts entspricht nicht unbedingt der dichterischen Intention (Davies 2020); aufgrund der vielfachen Wiederveröffentlichung der Yananer Reden aber sind die Gedichtzeilen weit über ihren Ursprungskontext bekannt und werden vielfach zitiert – sowohl im Tagebuch von Lei Feng (Henningsen 2022), als auch auf der letzten Seite der hier übersetzten Geschichte „Der Letzte Besuch" (Sheng 1976): Die jungen Künstler sehen Lu Xun hinterher, der im Nieselregen verschwindet. Sie haben einen von der Krankheit gezeichneten Lu Xun erlebt – der aber noch immer Energie ausstrahlte, der weiterhin seine ganze (verbleibende) Kraft in den Dienst der guten Sache, des Kampfes stellen will. Und sie scheinen zu ahnen, dass dies ein Abschied für immer ist, schließlich stirbt Lu Xun nur wenige Tage nach seinem Ausstellungsbesuch. So passend das zitierte Gedicht in der Situation scheint: Angesichts der weiten postumen Verbreitung der Zeilen durch die Yananer Reden sind sie ebenso ein Zitat von Lu Xun, das den jungen Leuten in ihre Gedanken gelegt wird, wie auch ein Zitat von Mao Zedong, der wiederum nur wenige Wochen nach der Veröffentlichung dieses Comics sterben würde. So sehr die Comics die Unterdrückung durch den politischen Gegner anprangern (eine Unterdrückung, die auch gelesen werden kann als eine Spiegelung der Unterdrückung, der viele Künstler während der Kulturrevolution ausgesetzt waren!), so bekräftigen die Geschichten mit diesem Zitat am Ende doch das Supremat der KP über künstlerisches Schaffen in der Volksrepublik China des Jahres 1976.

Zitierte Literatur #

Baker, David, Mary Ginsberg 2020 [eds.]: Lu Xun’s Legacy: Printmaking in Modern China: An Exhibition of Prints from the Muban Educational Trust, London: Muban Educational Trust.

Davies, Gloria 2013: Lu Xun’s Revolution: Writing in a Time of Violence, Cambridge, Harvard University Press.

Davies, Gloria 2020: “Lu Xun in 1960: On Valuing a Maoist Icon”, in: Critical Inquiry, 46, 515-535.

Denton, Kirk, A. 2016: “Literature and Politics: Mao Zedong’s ‘Yan’an Talks’ and Party Rectification”, in: Kirk A. Denton [ed.]: The Columbia Companion to Modern Chinese Literature, New York: Columbia University Press, 224-230.

Goldman, Merle 1982: “The Political Use of Lu Xun”, in: The China Quarterly, 91, 446-461.

Graf, Emily M. 2023: Lu Xun on Display: Memory, Space and Media in the Making of World Literary Heritage or The Materiality of World Literary Heritage: Memory, Space and Media in the Making of Lu Xun, Heidelberg: University of Heidelberg.

Fan Yixin 范一辛 (Illustration), Shi Zhongpei 史中培 (Adaptation) 1976: “Die Geschichte eines Holzschnitts” 一幅木刻的故事, in: Shi Zhongpei 史中培: Geschichten über Lu Xun und Junge Leute 鲁迅和青年的故事, Shanghai: Shanghai renmin chubanshe, 1-19.

Fogel, Joshua A. 2019: A Friend in Deed: Lu Xun, Uchiyama Kanzo, and the Intellectual World of Shanghai on the Eve of War, Ann Arbor: Asia Shorts.

Henningsen, Lena 2022: “Chairman Mao’s Good Reader: Mise en abyme in The Diary of Lei Feng”, in: ReadChina Interventions, Oct. 1, 2022, No. 3, https://readchina.github.io/interventions/LeiFeng.html, last access 2022-11-01.

Holm, David 1985: “Lu Xun in the Period of 1936-1949: The Making of a Chinese Gorki”, in: Lee, Leo Ou-fan [ed.]: Lu Xun and his Legacy, Los Angeles: University of California Press, 153-179.

Hu Keli 胡克礼 (Illustration), Shi Zhongpei 史中培 (Adaptation) 1976: “Die Geschichte eins Buchkaufs” 买书的故事, in: Shi Zhongpei 史中培: Geschichten über Lu Xun und Junge Leute 鲁迅和青年的故事, Shanghai: Shanghai renmin chubanshe, 1-13.

Gu, Ming Dong 2019: “Lu Xun’s Writings: Modernizing Chinese language and consciousness”, in: Gu, Ming Dong [ed.]: Routledge Handbook of Modern Chinese Literature, Oxon: Routledge, 23-35.

Lee, Leo Ou-fan [ed.] 1985: Lu Xun and his Legacy, Los Angeles: University of California Press.

Liu, Yiwen 2019: “Witnessing Death: The Circulation of Lu Xun’s Postmortem Image”, in: Circulation, 9/2, http://hdl.handle.net/2027/spo.7977573.0009.204, last access 2022-06-10.

Lu Xun 2017: Jottings under Lamplight (edited. by Eileen J. Cheng and Kirk A. Denton), Cambridge: Harvard University Press.

Mao Zedong, edited by Bonnie McDougall 1980: Talks at the Yan'an Conference on Literature and Art, University of Michigan.

Sheng Zengxiang 盛增祥 (Illustration), Shi Zhongpei 史中培 (Adaptation) 1976: “Der Letzte Besuch” 最后一次巡礼, in: Shi Zhongpei 史中培: Geschichten über Lu Xun und Junge Leute 鲁迅和青年的故事, Shanghai: Shanghai renmin chubanshe, 1-10.

Shi Zhongpei 史中培1976: Geschichten über Lu Xun und Junge Leute 鲁迅和青年的故事, Shanghai: Shanghai renmin chubanshe.

Tang, Xiaobing 2007: Origins of the Chinese Avant-Garde: The Modern Woodcut Movement, Berkeley: University of California Press.

Erläuterung der Übersetzung #

Eine Anmerkung zur Übersetzung: die Texte verwenden die Partikel 得, 地 und 的 nicht entsprechend des heutigen Standardgebrauchs, aber durchaus entsprechend der Gepflogenheiten der späten 1970er. Das Gleiche gilt für das Schriftzeichen anstelle 象 von 像. Wir haben diese Stellen entsprechend in der Transkription markiert, aber nicht korrigiert.

Die vorliegenden Übersetzungen wurden unter der Leitung von Dominik Weihrauch von Studierenden der Freien Universität Berlin im Rahmen des Masterkurses „Fortgeschrittenes Chinesisch 2" erstellt: Großer Dank an Johannes Nentwig (hauptverantwortlich für „Die Geschichte eines Holzschnitts"), Carolina Franke, Carla Nikolaus.

Wir haben uns sehr bemüht, den Herausgeber dieses Comics zu kontaktieren, um die Erlaubnis des Rechteinhabers zur Online-Veröffentlichung der Seiten und der Übersetzung zu erhalten. Wir bedauern, dass wir keine Antworten auf unsere Anfragen erhalten haben. Wenn Sie der Meinung sind, dass Ihre Urheberrechte nicht respektiert werden, senden Sie uns bitte eine E-Mail-Nachricht. Wir werden Ihnen so schnell wie möglich antworten und mit Ihnen zusammenarbeiten, um das Material entweder korrekt zu akkreditieren oder es ganz zu entfernen.

Lese die übersetzten lianhuanhua #

0 Front and back cover
0 Frontmatter
1 Die Geschichte eines Buchkaufs 买书的故事
Die Geschichte eines Buchkaufs 买书的故事 # 买书的故事 绘画 胡克礼 Die Geschichte eines Buchkaufs Illustrationen: Hu Keli
2 Die Geschichte eines Holzschnitts 一幅木刻的故事
Die Geschichte eines Buchkaufs 一幅木刻的故事 # 一幅木刻的故事 绘画 范一辛 Die Geschichte eines Holzschnitts Illustrationen: Fan Yixin
3 Der letzte Besuch 最后一次巡礼
Der letzte Besuch 最后一次巡礼 # 最后一次巡礼 绘画 盛增祥 Der letzte Besuch Illustrationen: Sheng Zengxiang